Staatsrechtler erwartet erfolgreiche Klagen gegen Lockdown Light – Und dann? Was passiert, wenn sich immer mehr infizieren?
Berlin, 30. Oktober 2020 – Der renommierte Staatsrechtler Ulrich Battis erwartet eine erfolgreiche Klagewelle gegen den “November-Lockdown”: “Ich gehe fest davon aus, dass es eine hohe Anzahl an Klagen geben wird und dass auch viele wie bisher in einstweiligen Rechtsschutzverfahren damit durchkommen werden, siehe die gekippten Beherbergungsverbote und Sperrstunden”, sagte Battis im Gespräch mit der “Neuen Osnabrücker Zeitung” (NOZ). Schon in der kommenden Woche könne es erste Entscheidungen geben. “Dass der gesamte Lockdown von Gerichten gekippt wird, erwarte ich aber nicht”, sagte Battis.
Einwände der Gastrobranche, Gaststätten seien keine Pandemietreiber, hält der Jurist nicht für überzeugende Klagegründe: “Jeder weiß, dass es in Restaurants häufig zu engen Kontakten kommt.” Zwar seien Ausbrüche dort nicht bestätigt. “Aber die Nachverfolgung der Infektionsketten ist weitgehend zusammengebrochen, sodass unbekannt ist, ob es in Gaststätten nicht doch zu vielen Ansteckungen kommt. Die wissenschaftliche Grundlage lässt Interpretationsspielraum für die Richter.”
Der Rechtswissenschaftler lobte die Bund-Länder-Beschlüsse vom Mittwoch als “sorgfältig begründetes und abgewogeneres Gesamtkonzept”. Kitas und Schulen blieben offen, insgesamt werde aber die Mobilität zurückgefahren. “Freizeiteinrichtungen und Gastronomie werden nur befristet geschlossen, und es gibt substanzielle Entschädigungen vom Staat. Das werden die Gerichte berücksichtigen”, so die Prognose des Experten, der unter anderem an der Berliner Humboldt-Universität lehrte.
Harsche Kritik übte Battis aber am Zustandekommen der Beschlüsse. “Die Rechtslage ist prekär: Das Infektionsschutzgesetz ist für “normale” Fälle gemacht worden, nicht aber zur Bekämpfung einer landesweiten Pandemie mit diesen wirtschaftlich und sozial verheerenden Auswirkungen”, sagte er der NOZ. “Diese prekäre Ermächtigungsgrundlage muss der Bundestag dringend nachbessern.”
Das gelte auch mit Blick auf die Übertragung der Rechte auf die Länder. “Das geht zu weit, da hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble völlig recht”, sagte Battis. “Eine Rechtsverordnung darf nicht mehr regeln als vom gesetzlichen Rahmen vorgesehen. Bei den Lockdown-Maßnahmen ist das aber eindeutig der Fall. Es ist gut, dass es dafür jetzt Initiativen gibt, etwa in NRW und in Thüringen. Da muss sich schnell etwas ändern.”
Niedersachsens Ministerpräsident verteidigt Schließung von Restaurants und Kneipen – Stephan Weil (SPD): “Genau dort finden nun einmal private Kontakte statt” – Härtere Eingriffe nicht ausgeschlossen
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil ist dem Eindruck entgegengetreten, dass die Gastronomie zum Sündenbock für die steigenden Corona-Zahlen gemacht werde. “Wir haben die Entscheidung, gastronomische Betriebe wieder zu schließen, schweren Herzens getroffen. Ich habe großen Respekt davor, mit welcher Sorgfalt viele Gastronomen in den vergangenen Monaten vorgegangen sind. Aber bei aller Achtung vor der Gastronomie: Genau dort finden nun einmal private Kontakte statt”, sagte der SPD-Politiker im Interview mit der “Neuen Osnabrücker Zeitung” (NOZ). Daher führe aus seiner Sicht kein Weg an der Schließung von Restaurants und Kneipen sowie dem Verbot touristischer Übernachtungen vorbei. “Damit verbinden wir aber auch die ernst gemeinte Hoffnung, dass wir bald Erfolge erzielen und die Gastronomie wieder an den Start gehen kann”, ergänzte der Regierungschef. Befürchtungen, durch Klagen von Wirten juristische Niederlagen zu erleiden, hat der Jurist Weil nicht: “Ich weiß sehr genau, welche Bedeutung Grundrechte haben, und ich gebe mir alle Mühe, gerade auch unter den Bedingungen der Pandemie Grundrechtsschutz zu betreiben. Aber Grundrechte sind niemals uneingeschränkt in unserer Verfassung. Sie haben immer auch den Schutz anderer und die Interessen der Gemeinschaft mit im Blick.”
Für den Fall, dass die verschärften Corona-Regeln, die ab Montag auch in Niedersachsen gelten sollen, nicht den gewünschten Erfolg erzielen, kündigte Weil weitere Maßnahmen an. “Wenn wir es jetzt nicht schaffen, das Infektionsgeschehen nachhaltig einzudämmen, landen wir bei ganz anderen Infektionszahlen und letztlich auch bei einer ganz anderen Gefahr für unsere freie Lebensführung. Das ist gerade vorbeugender Brandschutz, um den wir uns bemühen. Es ist der Versuch, wieder vor die Lage zu kommen und damit weitere Einschnitte abzuwenden. Wenn uns das nicht gelingt, sind im Zweifel auch weitergehende Maßnahmen erforderlich”, erklärte der Ministerpräsident, schloss Ausgangssperren für sein Land aber nahezu aus: “Im Frühjahr, als Bayern Ausgangssperren verhängt hatte, hat Niedersachsen das sehr bewusst nicht getan. Wir sind damals gut damit gefahren, und bis zum Beweis des Gegenteils sehe ich das auch weiterhin so.”
Auf die Frage, ab welchem Wert mit der Rücknahme von verschärften Regeln zu rechnen sei, antwortete Weil: “Erst wenn wir wieder ein stabiles, deutlich niedrigeres Infektionsgeschehen erreicht haben, können wir über eine Rücknahme von jetzt verhängten Maßnahmen sprechen. Aber das ist ein steiniger Weg.” Gleichzeitig äußerte der Landesvater mit Blick auf Weihnachten den Wunsch, “dass wir dann entspannt unter dem Tannenbaum sitzen und sagen können: Zusammen haben wir gerade eine gefährliche Situation gemeistert.”
Corona-Krise: Top-Ökonomen halten Zehn-Milliarden-Nothilfe für nicht ausreichend
Führende Ökonomen haben die staatliche November-Nothilfe für Gastronomen und andere vom Teil-Lockdown betroffene Branchen begrüßt, halten diese jedoch nicht für längerfristig ausreichend. “Die Erstattung des Umsatzausfalls ist sicher zielführend”, sagte Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), der Düsseldorfer “Rheinischen Post”. “Ob allerdings 75 Prozent ausreichen, dürfte fraglich sein, je länger der Lockdown dauert.” Denn die Gewinnmargen in konsumnahen Branchen seien gering. “Insofern kann es trotz der Hilfen zu einem massiven Unternehmenssterben kommen”, sagte der IW-Chef. Zudem hätten Einzelhändler keine Hilfe in Aussicht, obwohl auch ihre Geschäfte leiden würden, wenn in Innenstädten die Cafés und Restaurants schließen müssten.
Ähnlich äußerte sich Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). “Die Hilfen werden das längerfristige Problem von Gastronomie, Einzelhandel und Reisebranche in dieser Pandemie nicht lösen können”, sagte Fratzscher der Zeitung. Menschen würden ihr Konsumverhalten ändern, um sich vor dem Coronavirus zu schützen. “Auch deshalb werden wir wohl in den kommenden Monaten zahlreiche Insolvenzen bei Unternehmen sehen, nicht nur in den jetzt unmittelbar betroffenen Branchen”, sagte der DIW-Präsident. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) haben am Donnerstag neue Hilfen in Höhe von zehn Milliarden Euro für betroffene Branchen im November vorgestellt.
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